Das Gezerre um die Siemensturbine für Nord Stream 1 zeigt die Abhängigkeit und Verwundbarkeit des Westens ebenso wie die Widersprüchlichkeit der Sanktionsregeln. Ein Kommentar.

Man stelle sich nur einmal kurz vor, die kanadische Regierung hätte sich streng an die westlichen Sanktionsregeln gehalten und konsequent die Ausfuhr jener Siemensturbine untersagt, mit deren Hilfe das russische Gas durch die Nord-Stream-1-Pipeline gedrückt wird. Dem Kreml hätten die Kanadier damit einen perfekten Vorwand für die vorzeitige Einstellung des Gasbezugs geliefert – und die Deutschen wären von jetzt auf gleich in eine veritable Krise geschlittert.

Natürlich hat Kanada für das unverzichtbare Bauteil eine Ausnahmegenehmigung erteilt. Aber der Vorfall zeigt, wie schwierig der Umgang mit dem westlichen Sanktionsregime in der Praxis ist. Einerseits will man den russischen Aggressor ökonomisch in die Knie zwingen, aber oft genug trifft man vor allem die eigene Wirtschaft. Dort spüren wir die Folgen von Krieg und Sanktionen jeden Tag deutlicher: explodierende Energiepreise, gerissene Lieferketten und das zunehmende Gefühl, dass alles nur noch schlimmer wird, was wiederum auf die Konjunkturerwartungen durchschlägt.

Russland hingegen begegnet den Sanktionen bislang mit beispiellosem Gleichmut: Das nicht in den Westen gelieferte Gas und Erdöl wird eben an Indien, China oder andere Abnehmer verkauft. Die Devisen aus dem Rohstoffhandel fließen weiter ungestört in die Kassen des Kreml, fehlende technische Teile werden in anderen Ländern eingekauft und auch der Kurs des Rubel liegt inzwischen über dem Vergleichswert des Vorjahres.

Soll man also die Sanktionen einstellen? Nein, sicher nicht, aber wir sollten uns ehrlich machen: Die Hoffnung, Putin wenn nicht militärisch so doch ökonomisch niederringen zu können, erweist sich knapp fünf Monate nach Kriegsbeginn als Illusion. Allein unsere fatale Gasabhängigkeit zwingt uns immer wieder, Ausnahmen vom Sanktionsregime zu machen. Einmal ist es die Pipeline, ein anderes Mal ist es der verschlungene Weg, wie über Treuhandkonten und Clearingstellen die tägliche Rechnung für den Bezug des immer noch fließenden Gases beglichen wird. Wir zahlen in Euro – und in Moskau kommen dank kreativer Regierungsberater und Banker russische Rubel an. Auch andere Geschäfte laufen weiter – sie gehen jetzt nur über Zwischenhändler und andere Länder.

Keine Regel ohne Ausnahme, sagen die Juristen gerne. Aber je mehr Ausnahmen eine Regel aufweist, desto löchriger und unwirksamer wird sie am Ende. Das gilt auch für die Sanktionen, das sollten wir uns eingestehen. Dennoch: Wir müssen uns Putin entgegenstellen. Aber das wird viel schwerer und viel teurer, als man in der rechtschaffenen Empörung des ersten Augenblicks nach Kriegsbeginn gedacht hat. Die aus deutscher Produktion stammende Turbine für Gazprom ist ein Sinnbild unserer Verstrickung, Abhängigkeit und Verwundbarkeit.

Quelle: Daniel Goffart, Wiwo

Von Morpheus

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