Hat Hessen die Wahl?

Am 8. Oktober wird der Hessische Landtag gewählt – auch wenn man das so gar nicht merkt.

Dabei ging es früher in Hessen stets ums Ganze. Hier wurden tatsächliche WahlKÄMPFE geführt. Der rechteste Landesverband der CDU, nicht ohne Grund als Stahlhelm-Fraktion bezeichnet, gegen eine Sozialdemokratie, die noch eine Ahnung davon hatte, wofür sie stand.

Auf der einen Seite die rechten Themen, Elite- statt Friedeburgs Gesamtschule, Atomkraft statt erneuerbarer Energien, konservativ-reaktionäre Familienpolitik statt Gleichberechtigung unter Alfred Dregger und später kam auch noch Roland Koch (CDU). Auf der anderen Seite der Anspruch „Hessen vorn“ seit den legendären Zeiten August Zinns (SPD) und dem Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (SPD), die Frankfurter und Marburger Schulen. Hessen immer als ein kleines Labor gesellschaftlicher Frühentwicklungen und Potentiale, die die ganze Republik bewegten und bisweilen veränderten.

Ein linker Betriebsunfall

Man erinnert sich wahlweise mit Schaudern oder Sehnsucht an Holger Börner (SPD) und seiner „Dachlatten-Lösung“ gegen die Grünen. Was ihn gleichwohl nicht hinderte, das erste rot-grüne Experiment auf Landesebene zu wagen; ein Projekt, das zunächst nach Bonn und im vereinigten Deutschland bis nach Berlin ausstrahlte. In Hessen wegen Biblis gescheitert, was dem CDU-Kandidat Wallmann eine knappe CDU/FDP-Mehrheit bescherte, die er wie zu seiner Zeit in Frankfurt als OB nutzen wollte.

Aber nach vier Jahren war wieder Rot-Grün mit der Büroklammer und dem späteren Bundessparkommisar Hans Eichel (SPD) am Zug. Nicht weil er so charismatisch war – er profitierte von der Weltlage. Der Krieg im Irak, den die SPD nicht wollte, zahlte sich für ihn aus. Die CDU radikalisierte sich mit Koch nach rechts und gewann 1999 nach der Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Oder schlicht ausgedrückt, mit Ausländer*innenfeindlichkeit.

Erst 2008 hielt die die SPD mit dem „linken Betriebsunfall“ Ypsilanti (SPD) und einem fortschrittlichen Programm wieder richtig dagegen. Und siehe da, man war wieder auf Augenhöhe (was die Grünen übelnahmen). Das Energieprogramm von Andrea Ypsilanti und dem Solarpapst Hermann Scheer (SPD) ist heute Allgemeingut. 2007/08 wurde es zum Untergang des Abendlandes stilisiert. Genauso wie der Versuch, an Inhalten festzuhalten und sich daher von den Linken tolerieren zu lassen. Was bekanntermaßen an der Intrige der sogenannten „fantastischen Vier“ scheiterte.


Danach verkümmerte die SPD zur Funktionärspartei auch in Hessen. Im Grunde nichts Besonderes in Anbetracht der Entwicklung der Bundespartei. Die man allerdings früher mal von Hessen aus inspirierte und gelegentlich unter Druck setzte mit fortschrittlichen Ideen und Programmen.

Wahlkampfverzicht, um die Bürger nicht zu nerven

Seit fast 25 Jahren wird Hessen inzwischen in wechselnden Koalitionen von der CDU bestimmt, die sich zunächst mit Bouffier und jetzt mit Rhein als Ministerpräsidenten mäßigte. Was auch an dem neuen Experiment ab 2013 mit Schwarz-Grün liegt. Da wuchs zusammen, was wohl zusammengehört. Hatte der Obergrüne Al-Wazir 2008 Roland Koch noch den Händedruck verweigert, weil der Plakate für das Ressentiment kleben ließ, so wurde auch eine mögliche rot-grün-rote Mehrheit ignoriert. Wobei man fairerweise hinzufügen sollte, dass der Vorsitzende der SPD, Thorsten Schäfer-Gümbel als Wiedergänger Eichels auch nicht den Eindruck vermittelte, auch nur irgendeine Idee zu haben.

Seit der Bildung der CDU-Grünen-Koalition herrscht Ruhe und Mehltau legt sich über das Land. Weder wirtschaftlich, geschweige denn sozial und schon gar nicht ökologisch ging wirklich etwas voran. Die Bildungspolitik ist eine Katastrophe, das Corona-Management die Steigerung derselben, soziale Gerechtigkeit liegt im Giftschrank. Eigentlich beste Voraussetzungen für eine engagierte Opposition.

Aber als zu Beginn des Jahres der neue Ministerpräsident Boris Rhein meinte, man solle bis vier Wochen vor der Wahl auf den Wahlkampf verzichten, stimmten SPD und FDP faktisch zu. Nun war Rhein nie der große Wahlkämpfer, das ist ihm eher fremd. Seine Begründung jedoch, sollte man sich auf der Zunge vergehen lassen: In Zeiten des Ukrainekrieges, der Krise der Energieversorgung, den Nachwirkungen der Pandemie und der Klimafragen, wollten die Bürger*innen sinngemäß ihre Ruhe.

Dabei sind doch genau das die offenen Fragen und Herausforderungen. Das sind die Themen für einen Wahlkampf, in dem man den Wähler*innen zeigen kann, welche Konzepte, Programme und Ideen man hat. Und was man landespolitisch tun könnte. Neben den ureigensten Fragen der Landespolitik, wie Bildung und der Ausbau der neuen Energien. Hessen hat gerade mal zwei Windräder neu gebaut. Dafür an der Autobahn A5 Millionen Steuergelder für einen sinnlosen E-Trassenbetrieb für LKW in den Sand gesetzt.

Lichtjahre von den Bürgern entfernt

Man braucht kein Prophet zu sein, um jetzt schon zu wissen, dass die Wahlbeteiligung weiter sinken wird. Genau deshalb, weil die etablierten Parteien sich kaum mehr unterscheiden, aber die Wähler*innen Fragen haben, verunsichert sind, sich um ihre Zukunft sorgen. Was für eine gewaltige Chance für einen Wettbewerb, der jedoch nicht stattfindet, weil die SPD schon vorher aufgibt, die FDP nur wieder über 5 Prozent kommen will. Dazu eine Sozialdemokratie mit einer Spitzenkandidatin, die beim Asylrecht Seehofer rechts überholt hat, die Clan-Mitglieder auch ohne Strafverfahren abschieben will und wohl glaubt, damit am rechten Rand gewinnen zu können. Obwohl doch schon hundertfach in Umfragen und Ergebnissen genau das widerlegt wurde: Die Wähler*innen bevorzugen das Original.

Am Ende sind alle wieder überrascht, dass die rechtsextreme AfD die Ernte auch im ehemals roten Hessen einfährt. Jene Partei die bei ihrem Parteitag zur Europawahl fast ausschließlich Kandidat*innen des rechtsextremen Höcke-Flügels nominiert hat. Jener Höcke, der aus seiner Überzeugung in seinem Buch „Niemals zweimal in denselben Fluss“ keine Geheimnisse macht: „Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen, dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt.“ Sage keiner, man habe es nicht gewusst!

Natürlich werden am Wahlabend wieder alle entsetzt sein. Über die niedrige Wahlbeteiligung, die vielen Stimmen für die AfD, die auch Besenstiele hätte aufstellen können. Sie wird inzwischen gleichwohl gewählt. Eben weil die etablierten Parteien Politik auf Inszenierung, Unterhaltung und Schlagworte reduzieren. Weil sie den Bürger*innen nicht nur das Gefühl vermitteln, dass sie Lichtjahre von deren Fragen entfernt sind. Und genau das ist das Problem. Es langweilt nur noch, wenn die Spitzenkandidat*innen die obligatorischen Rituale auf den Jubelparteitagen durchziehen.

Richtig aber wäre, sich selbstkritisch zu hinterfragen.

Langeweile statt Antworten auf die Fragen der Zeit

Mit Themen von tatsächlicher Relevanz wie Wohnungsnot, Bildungskrise oder den Widersprüchen des ökologischen Umbaus etwa. Für den alle sind, aber leider dann doch die Wälder für zusätzliche Autobahnen im Danneröder Forst weichen müssen. Oder die dann statt für billiges Gas aus Russland lieber Fracking-Gas aus den USA importieren und Kohle verfeuern. Und das während der „Freiheitskrieg“ täglich Tausende auf beiden Seiten das Leben kostet. Für (vorgebliche) Siege, die für Mensch und Natur nur Niederlagen beinhalten.

Die Partei Die Linke versucht das immerhin und führt Wahlkampf. Der jedoch kaum jemanden interessiert, solange die Frage der Spaltung nicht abschließend geklärt ist. Tagtäglich erklärt jede der beiden Flügel dem anderen, weshalb er falsch liegt, oder wahlweise unfähig ist.

Diese Landtagswahl könnte ein Signal sein. Für eine andere Politik, für tatsächliche Reformen zu Gunsten der Menschen, die unter Inflation, explodierenden Mieten und Klimakrise leiden. Stattdessen werden wir gelangweilt. Schon jetzt ist absehbar, dass die möglichen Koalitionen, ob Schwarz-Grün, Jamaika, Ampel oder die früher mal sogenannte Große Koalition aus CDU/SPD nichts verändern werden. Vielleicht gibt es ein paar Nuancen, mehr aber auch nicht. Umso wichtiger wäre es, wenn mit Die Linke wenigstens eine einzige Opposition in den Landtag kommen würde.

Hessen war mal vorn. Man kann nur hoffen, dass die Wahl nicht völlig nach hinten losgeht.

 

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